Wir Schlafwandler

Wir Schlafwandler sehen hundert Jahre nach 1914 zu, wie Krieg und Bedrohung nach Europa zurückkommen, gerichtet gegen einen seit 1919 souveränen Staat. Die Friedensbewegung ist stumm. Es fehlt eine Initiative der Menschen, der Rückkehr der Kriegsgeißel zu begegnen. Wir Schlafwandler oder Nie wieder Krieg.
Leo Trotzki liest John Dewey

Käthe Kollwitz: Nie wieder Krieg, 1923. Foto: Wikipedia

WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIONEN – FEST ENTSCHLOSSEN,

künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,

unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können,

den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern,

UND FÜR DIESE ZWECKE

Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben,
unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzu- führen, die gewährleisten, daß Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und

internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern –

HABEN BESCHLOSSEN, IN UNSEREM BEMÜHEN UM DIE ERREICHUNG DIESER ZIELE ZUSAMMENZUWIRKEN.

UNOCharta der Vereinten Nationen, United Nations Organisation

In seinem Buch „Die Schlafwandler“ analysiert der Historiker Christopher Clarke die verschiedenen Akteure der Julikrise 1914 und kommt zu dem Schluss, dass dieser Krieg in ihren Augen gänzlich „unwahrscheinlich“ war, wodurch ein Moment des Zufalls in den geschichtlichen Ablauf Eingang findet.

Geschichte wiederholt sich nicht. Vergleicht man jedoch die Analysen und Meinungen der letzten Wochen, sind die Analogien mitunter frappierend naheliegend. Kaum jemand der durch fast 80 Jahre Frieden in Europa „verwöhnten“ Generationen kann sich noch vorstellen, was auf dem Spiel steht, wenn die Friedensordnung in Europa und weltweit, garantiert von der UNO, im Kern zerbrechen sollte.

Denn anders als bei den Interventionen der Roten Armee in der DDR, Ungarn oder Prag, 1953, 1956 und 1968 oder bei den Konflikten im zerfallenden Jugoslawien, haben wir es dieses Mal mit einer offenen Bedrohung eines vollkommen souveränen, keinem Bündnis angehörenden Staates zu tun. Das war bereits 2014 bei der Annexion der Krim durch Russland so, jetzt geht es allerdings um eine Annexion eines kompletten souveränen Staates mit einem riesigen Territorium. Auch die Vorgänge in Georgien und im Kaukasus sind insofern nicht vergleichbar.

Russlands Imperialismus

Wir sind also mit einer imperial agierenden Großmacht konfrontiert. Das Gefährliche ist offenbar, dass die russische Seite sich noch dazu für berechtigt erachtet, intellektuell legitimiert mit historiographischen Konstruktionen, sich ihren seit 1919 souveränen Nachbarn als eine Art Untertan zu denken, der zu einer wie auch immer gearteten Bootsmäßigkeit verpflichtet sei. Den immer noch der Sowjetunion nachtrauernden Linken sei gesagt, dass sie heute, gerade aus ihrer hergebrachten marxistischen Denkweise heraus, Russland als kapitalistischen Staat mit einer staatsmonopolistisch verflochten Struktur und entsprechenden imperialistischen Expansion- und Herrschaftsgelüsten analysieren sollten, anstatt immer wieder nostalgische Tränen der Entschuldigung fließen zu lassen und völlig willkürliche Toleranz gegenüber einer imperialistischen, völkerrechtswidrig agierenden Großmacht zu üben.

Die imperialistische Vorstellungswelt von Teilen (?) der russischen Führung ist von gestern, sie ist gleichwohl aber eine Einstellung des Gegenübers, auf die alle anderen Akteure reagieren müssen. Die Antwort kann nur heißen, sich unter Bezug auf die UN-Charta jeglicher Diskussion irgendwelcher historischer „Rechte“ für eine militärische Intervention gegen einen Nachbarstaat zu verweigern. „Fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“, bekräftigen wir „unseren Glauben (…) an die Gleichberechtigung (…) von allen Nationen, ob groß oder klein“, heißt es in der Präambel der UN-Charta.

Arm aber gefährlich?

Die wirtschaftliche Triebkraft hinter dem aggressiven Gebaren Russlands ist nicht Stärke. Russland ist abhängig von seinen Rohstoffexporten, das BIP stagniert bei etwa 1600 Mrd. US$ auch wegen der massiven Kapitalexporte der Oligarchien. Russland erreicht nur 7% der US-amerikanischen Wirtschaftsleistung und das Pro-Kopf-Einkommen von etwa 11.000 $ liegt bei einem Drittel des EU Durchschnitts.

Der militärisch-industrielle Komplex in Russland ist offenbar einflussreich und mächtig. Mit 4,3% des BIP oder über 60 bis 80 Mrd. US$ leistet sich Russland den weltweit in dritthöchsten BIP Anteil für den Militärapparat, nach Saudi Arabien und Israel, aber vor den USA. Deutschland zum Vergleich liegt bei 1,4%. Die Zahlen beruhen auf Schätzungen vom Stockholm International Peace Research Institute, da es keine offiziellen Daten gibt.

Das weitgehend von den Rohstoffexporten abhängige russische BIP stagniert, wohingegen das der Ukraine sich in den letzten Jahren von 90 auf 180 Mrd. US$ fast verdoppelt hat. Auch das mag ein Grund für die Begehrlichkeiten sein.

Eine russische Petition

Eine Gruppe russischer Intellektueller, unter anderem dabei ist Tatjana Bonner, Tochter von Jelena Bonner, hat die bemerkenswerte Petition „Wenn es nur keinen Krieg gäbe“ veröffentlicht.

„Wir, verantwortungsbewusste Bürger Russlands und Patrioten unseres Landes, appellieren an die politische Führung Russlands und fordern die Kriegspartei, die innerhalb der Behörden gebildet wurde, offen und öffentlich heraus.

Wir bringen den Standpunkt des Teils der russischen Gesellschaft zum Ausdruck, der Krieg hasst, und betrachten ihn als Verbrechen, sogar den Einsatz militärischer Bedrohung und kriminellen Stils in der außenpolitischen Rhetorik.

Wir hassen den Krieg, ihr aber haltet ihn für zulässig. Wir setzen uns für den Frieden und Wohlstand für alle russischen Bürger ein, für euch aber sind deren Leben und Schicksale nur ein Einsatz in eurem politischen Spiel. Ihr betrügt und benutzt die Leute – wir sagen ihnen die Wahrheit. Wir sprechen das im Namen Russlands aus, nicht ihr, denn die Völker Russlands, die Millionen von Menschenleben in vergangenen Kriegen verloren hatten, leben seit Jahrzehnten nach dem Spruch „Es soll bloß keinen Krieg geben!“. Habt ihr das vergessen?

Dieser Standpunkt ist auch für uns Westeuropäer wichtig. Wir brauchen neben allen anderen Bemühungen eine Petitionsbewegung, eine neue Friedensbewegung, die den russischen Großmachtbestrebungen in den Arm fällt. Gebe ich im Internet allerdings „Petition“ und „Ukraine“ ein, finde ich ausschließlich wohl von russischer Seite gelenkte Desinformation vor. „Dem Weltfrieden zuliebe: Ukraine demokratisch aufteilen“, lautet die oberste Schlagzeile bei Google. Das ist eine beschämende, alle völkerrechtliche Grundsätze über den Haufen werfende Propaganda.

Schluss mit der Drückebergerei in Deutschland

Genauso fehlt mir jedes Verständnis für die Position eines deutschen Talkshowmasters, der den ukrainischen Botschafter in Deutschland mit suggestiven Fragen in einem penetranten Nothelfer-Gestus traktiert hat, a là ‚wozu Waffen, die den Krieg doch nur um einige Tage verlängern würden und damit noch mehr Leid erzeugen?‘ Dies passt zu einer sich bequem in der Geschichte zurechtschummelnden Haltung vieler Deutscher, die mit einem Hinweis auf die Geschichte des 2. Weltkriegs sich bei der Frage von Verteidigungswaffen heraushalten wollen, solche Lieferungen sogar zu verhindern wissen wollen und Russland also indirekt besondere Ansprüche gegenüber der souveränen Ukraine zubilligen. Eines machte in der Talk-Show Sendung dann zum Glück eine Politikwissenschaftlerin klar. Es geht um Abschreckung. Und was bitte soll das für eine Lehre aus der besonderen deutschen Geschichte sein, die behauptet, weil wir Deutsche dort soviel Leid verübt und Verbrechen begangen haben, müßten wir uns jetzt zurückhalten? Die Lehre aus dem 2. Weltkrieg war nicht die Billigung von Einflusssphären und das Sich-Heraushalten bei aggressiven Aktionen einer Großmacht, wie Deutschland von 1938 bis 1945 es war, sondern das Bekenntnis zur kollektiven Achtung von Souveränität und internationalen Verträgen. Und zur Durchsetzung einer internationalen Friedensordnung, Aufrecht zu erhalten notfalls mit Gewalt.

Die Position der Bundesregierung, ein NATO-Beitritt stünde ja derzeit gar nicht zu Debatte, ist windelweich und indirekt eine Unterstützung der russischen Lesart der Welt, man habe das Recht auf eigene Einflusszonen und zur Einmischung in die Entscheidungen souveräner Nachbarstaaten.

Volles Recht der UN-Charta

Die UN-Charta billigt im Kapitel VII anderen Staaten ausdrücklich das Recht zu, bedrohten Staaten bei ihrer Verteidigung zu helfen. Der Weltsicherheitsrat wird tagen. Zwar gibt es hier das Vetorecht Russlands, weshalb Maßnahmen nach Artikel 40, 41 oder gar 42 nicht durchsetzbar sind, aber die Logik und der Geist dieser Passage der UN-Charta gehen ausdrücklich davon aus, dass ein Aggressor gegen den Frieden notfalls auch mit Waffengewalt gestoppt werden muss. Dies gilt es auch im bilateralen Handeln zu berücksichtigen, um eine Situation zu schaffen, die einem potentiellen Aggressor den Preis zu hoch erscheinen lässt. Dies ist wohlgemerkt die Lehre der Staaten, die im 2. Weltkrieg Opfer der Aggression von Nazi-Deutschland wurden. Wir sollten uns daran halten.

Die Petition der russischen Intellektuellen ist eindeutig: „Unsere Position ist extrem einfach: Russland braucht keinen Krieg mit der Ukraine und dem Westen. Wir (Russland S.B.) werden von niemandem bedroht und von niemandem angegriffen. Politik, die auf der Förderung der Idee eines solchen Krieges basiert, ist unmoralisch, unverantwortlich und kriminell und kann nicht im Namen der Völker Russlands geführt werden. Ein solcher Krieg kann weder legitime noch moralische Ziele haben. Die Diplomatie des Landes (der Völker der Welt S.B.) kann keine andere Position einnehmen, außer der kategorischen Ablehnung eines solchen Krieges.“

Dies sind Sätze, die einer europäischen Friedenspetition würdig wäre.