Auf der Adamant – Wegweisendes für die Psychiatrie

Bei den LETsDOK Dokumentarfilmtagen wird in München am 15.9. 2023 der Regisseur von AUF DER ADAMANT, Nicolas Philibert, zu Gast sein. Der Film wurde auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Ich habe ein Gespräch mit Nicolas Philibert, der Münchner Psychiaterin Dr. Gabriele Schleuning und weiteren Teilnehmern organisiert. Der Film zeigt ein wegweisendes Beispiel für die Betreuung psychisch kranker Menschen im Rahmen einer Tagesstätte.

LA BOMBE HUMAINE

(…) „Ich sehe in meinem Inneren Bilder, Farben
Die nicht zu mir gehören, die mir manchmal Angst machen
Empfindungen
Die mich verrückt machen können
Unsere Sinne sind unsere Fäden, wir arme Marionetten
Unsere Sinne sind der Weg, der direkt in unsere Köpfe hineinführt.
Die menschliche Bombe, du hältst sie in deiner Hand
Du hast den Zünder direkt neben deinem Herzen.
Die menschliche Bombe bist du, sie gehört dir
Wenn du zulässt, dass jemand dein Schicksal in die Hand nimmt.
Das ist das Ende

(..)

Auf der Adamant
Die Adamant
07 Auf der Adamant ©Grandfilm
09 Auf der Adamant ©Grandfilm
08 Auf der Adamant ©Grandfilm

Nicolas Philibert eröffnet seinen Film über die psychiatrische Tagesstätte Adamant in Paris mit einem Mann, der einen Song der Gruppe Téléphone vorträgt. „La Bombe Humaine“, die Bombe Mensch. Es heisst dort: Es ist das Ende, wenn Du zulässt, dass jemand Dein Schicksal in die Hand nimmt.

Ein Schiff – ein Mensch

Ein Schiff am Ufer der Seine. Ein Angebot, auf dem Kai ein Mensch, seltsam schreitend, nähert sich, zögert, schaut zur „Stadt“ herüber, geht ein Stück in die andere Richtung, und dann dreht er sich um und geht mit exaltiert federnden Schritten auf die Gangway der Adamant zu. Freiwillig.

Die nahe der Charles-de-Gaulle-Brücke in Paris fest verankerte Adamant könnte eines der vielen Hausboote sein, die man an den Seine-Ufern in Paris findet. Doch hinter ihren großen Glasfenstern nimmt sie von Montag bis Freitag Patienten mit psychischen Störungen auf. Die ungewöhnliche Einrichtung wurde 2010 eröffnet und betreut jedes Jahr durchschnittlich 230 Patienten. Einige täglich, andere nur von Zeit zu Zeit. Einige über Jahre, andere nur kurz. Es werden Workshops angeboten, aber man kann auch einfach nur auf eine Mahlzeit oder einen Kaffee vorbeikommen oder sich unterhalten.

Die Integration psychisch kranker Menschen in den Alltag ist ein immer noch kontrovers diskutiertes Thema. Tageseinrichtungen wie die Adamant gibt es auch in Deutschland in größerer Zahl. Aber etwas ist besonders an diesem Projekt in Paris, das der Dokumentarfilmer Nicolas Philibert meisterhaft porträtiert.

Selbstverantwortung

In vielen Tageskliniken oder Tagesstätten kann man den Eindruck gewinnen, dass die Patienten eher passiv bleiben, betreut werden, wegen der Leistungen, wie einer warmen Mahlzeit, kommen oder wegen eines von anderen für sie ausgedachten Programms an Unterstützungsangeboten. Ein gut gemeinter und durchdachter Apparat betreut seine Kunden. Das läuft in Paris in einem entscheidenden Grundsatz anders.

Der Unterschied beginnt mit Elementen der Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Im Film sehen wir zu Beginn eine Pflegerin und eine Patientin, wie sie in einer Runde aus Betreuern und Betreuten den Wochenplan aufstellen. Die Parität schafft Selbstverantwortung, Eigeninteresse. Diese Beobachtung können die Zuschauer des Films an zahlreichen Beispielen an verschiedenen Stellen machen: In der Cafeteria, bei der Buchhaltung, beim Kochen, bei der Planung von Arbeitsgruppen. Selbstverwaltung gibt ein Stück Eigenverantwortung zurück und vor allem Würde. Man kann als Betreuter auf der Adamant durch eigenes Engagement eigenes Geld verdienen, z.B. in der Cafeteria-Bar servieren. Gemeinsam wird Geld gezählt und abgerechnet.

Die Gemeinschaft wird durchgehend gelebt. Kommen neue Psychiaterinnen oder Pfleger, setzen sie sich in die morgendliche Runde und stellen sich kurz vor, ganz mal eben so, ich gehöre jetzt zu euch. Egal ob Patient oder Arzt, ob verrückt oder normal.

Eine großartige Szene im Film ist der wöchentliche Ausflug zum Pariser Markt, wo die Leute der Adamant aus Containern weggeworfenes Obst und Gemüse für ihren Bedarf sammeln. In der Küche wird anschließend das Gefundene gemeinsam zubereitet, etwa Marmelade gekocht.

Ungewöhnliche Nähe und Offenheit

Der Film nimmt die Zuschauer mit zu denen, die auf der Adamant ihre Tage verbringen. Durchweg schwer gezeichnete Menschen. Die Kamera schont niemanden. Philibert gelingt es, selbst Teil der Gemeinschaft zu werden und dadurch ungewöhnlich intensive Eindrücke zu drehen. Eine derartige Nähe zeugt von tiefem wechselseitigen Vertrauen – und das fällt nicht vom Himmel. Philibert hatte schon vor acht Jahren einen Film auf der Adamant gedreht und bevor er seinen neuen Film drehte, verbrachte er noch einmal 18 Monate auf dem Schiff, traf sich mit Patienten, dem Team und den Pflegern, hörte viele, viele Stunden zu und führte lange und freundschaftliche Gespräche.

Nicht verschwiegen wird im Film, die Patienten selbst sprechen davon, dass es vor allem Neuroleptika, also die richtigen Medikamente sind, die das Zusammensein und die Gemeinschaft für die Kranken möglich machen.

Die Medikation wird außerhalb der Adamant eingestellt und kontrolliert. Die psychiatrischen Einrichtungen der vier Arrondissements von Paris-Centre betreuen etwa 2.400 Patienten, knapp 400 von ihnen kommen, übers Jahr gezählt, zur Adamant. Die Patienten brauchen jemanden, der sie dorthin weiterleitet, eine Krankenschwester, einen Arzt oder einen privaten Psychiater, oder sie müssen von den psychologisch-medizinischen Zentren des Sektors zum Schiff geschickt werden.

Ein Theater mit vielen Schauspielern?

„Wir sind alle Schauspieler in einem Hollywood Film, man hat nur vergessen, uns im Abspann zu erwähnen.“ Das glaubt einer der Patienten dort. Er hält sich für eine Reinkarnation van Goghs und ist ein enorm kreativer und talentierter Mensch. Aber er ist schwer gezeichnet. Als Zuschauer kommt man den Protagonisten sehr nahe, möchte mehr erfahren, vielleicht auch helfen. Möglichkeiten, sich zu engagieren gibt es für jeden von uns. In jedem Mensch steckt ein Künstler. Auf der Adamant sehen wir, wie sich Kreativität entfaltet, wie die entstandenen Kunstwerke ausgestellt oder aufgeführt werde, wie über sie gesprochen wird.

Der grundsätzliche Ansatz auf der Adamant ist nicht „Wir Normalen zeigen euch wie ihr es wieder besser machen könnt“. Oder wir Fachkräfte therapieren „die Kranken“ zurück in die Normalität. Sondern wir sehen im Film einen Raum für eigenes, selbstbestimmtes Leben – so wie du bist, darfst du hier sein und deine vielleicht etwas verrückte Dinge tun. Und in solchen Räumen kann jeder jeden unterstützen. Die Therapeuten sind dabei. Unauffällig, geduldig zuhörend.

Der Film selbst ermöglicht uns, den Menschen auf der Adamant gut zuzuhören. Menschen, die es, wie es bei Momo von Michael Ende heißt, genau so, wie sie sind, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gibt und die deshalb auf ihre besondere Weise für die Welt wichtig sind.

Ein utopischer Ort der Menschlichkeit – oder mehr?

Ein Vorbild für die Psychiatrie?

Unlängst schrieb ein Betroffener in der FAS unter dem Titel „Meine Zeit in der Psychiatrie“ zur Betreuung psychisch Kranker in Deutschland:

„Ideal wäre es, wenn Psychiatrien weniger wie Kliniken eingerichtet wären, sondern wie gemütliche Treffpunkte für psychisch Kranke, an denen man sich gerne aufhält und viele Möglichkeiten hat, aktiv zu werden.“

Es gibt zahlreiche Initiativen, Einrichtungen und medizinische Häuser zur Betreuung psychisch kranker Menschen, die in diese Richtung denken und entwickelt werden können. Der Film „Auf der Adamant“ kann eine Anregung bieten, die Strukturen der eigenen Arbeit wieder und wieder dahingehend zu überdenken, wo und wie Inklusion und vor allem Partizipation weiterentwickelt werden können. Ein würdiger Preisträger des Goldenen Bären.

AUF DER ADAMANT wird im Rahmen der LETsDOK Dokumentarfilmtage bundesweit in Kinos gespielt. Die Termine stehen auf der LETsDOK Webseite.

In München wird der Regisseur Nicolas Philibert am 15.9. im RIO Filmpalast anwesend sein. Die Psychiaterin Gabriele Schleuning, Gründerin und langjährige Leiterin des Münchner Atriumhauses, wird mit Nicolas Philibert über seinen Film Auf der Adamant sprechen und die Bezüge zur therapeutischen Betreuung psychisch kranker Menschen verdeutlichen. Als Sprecher der AG DOK Bayern wird dieser Abend von mir organisiert.

Die Veranstaltung wird gedolmetscht.

Hier ein Link zur Veranstaltung.

Aus datenschutzrechtlichen Gründen benötigt Vimeo Ihre Einwilligung um geladen zu werden. Mehr Informationen finden Sie unter Impressum / Datenschutz.
Akzeptieren