Die Todesmühlen. KZ Filme und die Deutschen

Bei Ihrem Vormarsch in Deutschland stießen die alliierten Truppen im Frühjahr 1945 auf die Konzentrationslager des Nazi-Regimes. Die Todesmühlen. Die Soldaten werden von Kameraleuten begleitet, die das Vorgefundene in Filmaufnahmen dokumentieren. Über die Wirkung der Filmbilder des KZ-Horrors gibt es unterschiedliche Meinungen. Es geht um Schuld und Verantwortung der Deutschen.

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Thomas Mann, Doktor Faustus: „Der dickwandige Folterkeller, zu dem eine nichtswürdige, von Anbeginn dem Nichts verschworene Herrschaft Deutschland gemacht hatte, ist aufgebrochen, und offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt, der fremden Kommissionen, denen diese unglaubwürdigen Bilder nun allerorts vorgeführt werden, und die zu Hause berichten: was sie gesehen, übertreffe an Scheußlichkeit alles, was menschliche Vorstellungskraft sich ausmalen könne.“

Die Alliierten Soldaten erreichen die Lager

Im April 1945 erreichen Soldaten der westlichen Alliierten die großen Konzentrationslager in Nord-und Mitteldeutschland. Die Vernichtungslager im Osten waren schon im Januar 1945 befreit worden. Doch jetzt werden die Lager mitten in Deutschland publik. Die SS hatte in den Wochen zuvor noch versucht, die Häftlinge auf Transporte und Märsche zu schicken. Aus Buchenwald wurden tausend Häftlinge in einem offenen Güterzug nach Dachau geschickt. Die meisten von Ihnen starben. Waggons mit ihren Leichen wurden in Dachau und im oberbayerischen Seeshaupt, einem idyllischen Ort am Starnberger See abgestellt. In den Lagern haben sich Seuchen wir Typhus, Cholera oder Gelbfieber ausgebreitet. Die entkräfteten Häftlinge sterben in den letzten Wochen der Naziherrschaft zu Zehntausenden.

Die Filmaufnahmen, die amerikanische Kameraleute des Signal Corps im Frühjahr 1945 von den grauenhaften Szenerien der Konzentrationslager gedreht haben, wurden in Wochenschauberichten gezeigt. Die Welt steht fassungslos vor diesen Bildern. Die Todesmühlen werden die Lager in einem Dokumentarfilm benannt.

Bahnhof Seeshaupt 1945

Ein Beispiel aus Oberbayern. Standfotos von einem KZ-Zug mit Leichen am 30.4.1945 in Seeshaupt.

Camp de concentration de Buchenwald 16 avril 1945


Thomas Mann, Doktor Faustus:

„Unterdessen läßt ein transatlantischer General die Bevölkerung von Weimar vor den Krematorien des dortigen Konzentrationslagers vorbeidefilieren und erklärt sie – soll man sagen: mit Unrecht?-, erklärt diese Bürger, die in scheinbaren Ehren ihren Geschäften nachgingen und nichts zu wissen versuchten, obgleich der Wind ihnen den Stank verbrannten Menschenfleisches von dorther in die Nasen blies, – erklärt sie für mitschuldig an den nun bloßgelegten Greueln, auf die er sie zwingt, die Augen zu richten. Mögen sie schauen – ich schaue mit ihnen, ich lasse mich schieben im Geiste von ihren stumpfen oder auch schaudernden Reihen.“

General Eisenhower, Ohrdruf, 1945

General Dwight D. Eisenhower in Ohrdruf, 16.4.1945

Morris Janowitz, Intelligence officer PWB, 1945: “Every community, except perhaps the very smallest, had members who were taken off to concentration camps; there is even evidence that it was Nazi policy to take a „sample“ from every community. Although returned inmates may have feared to talk about their experiences, they acted as a constant reminder to the German people of the existence of such institutions.“

Weimar und Buchenwald

Es ist ein sonniger und warmer Frühlingstag. Am 16. April 1945 werden Weimarer Bürger werden in das nur 10 Kilometer entfernte KZ geführt, um ihnen den unmenschlichen Horror des Nazi Regimes vorzuführen. Die Aufnahmen werden von einem amerikanischen Filmteam des „Special Film Project“ von William Wyler gedreht. Die Aufnahmen sind leider nicht in einem besonders guten Zustand erhalten. Der spätere amerikanische Präsident General Dwight D. Eisenhower schreibt über den Hintergrund der Aktion:

„Ich bin niemals im Stande gewesen, die Gefühle zu beschreiben, die mich überkamen, als ich zum ersten Mal ein so unbestreitbares Zeugnis für die Unmenschlichkeit der Nazis vor Augen hatte und dafür, dass sie sich über die primitivsten Gebote der Menschlichkeit in skrupelloser Weise hinwegsetzten. […] Nichts hat mich je so erschüttert wie dieser Anblick. […] Sobald ich am Abend in Pattons Hauptquartier zurückgekehrt war, telegraphierte ich nach Washington und London und drang bei den Regierungsstellen darauf, man solle sofort ohne weitere Umstände eine Reihe von Zeitungsredakteuren und Volksvertretern nach Deutschland schicken. Ich hielt es für richtig, der Öffentlichkeit in Amerika und England diese Beweise unverzüglich zugänglich zu machen, und zwar so, dass für zynische Zweifel kein Raum mehr blieb.“

General Patton und Eisenhower stehen auch hinter der Aktion, Weimarer Bürger – so wie auch in anderen Lagern – Buchenwald zu bringen, um sie mit dem abscheulichen Lager zu konfrontieren. Thomas Mann kommentiert die Aktion in seinem Roman Doktor Faustus treffend mit „stumpfen und schaudernden Reihen“ scheinbar ehrenwerter Bürger.

Imre Kertész war als Häftling dabei: „Ich sitze, in eine Decke gehüllt, im Frühjahr 1945 auf dem tragbaren Abort, der vor der Krankenhausbaracke von Buchenwald aufgestellt war, ganz so wie der Herzog von Vendôme, als er den Bischof von Parma empfing. (…) Plötzlich werde ich auf eine unglaubliche Szene aufmerksam: Vom Hügel her nähert sich eine Gesellschaft von Damen und Herren. Röcke flattern im Wind. Feierliche Damenhüte, dunkle Anzüge. Hinter der Gesellschaft einige amerikanische Uniformen. Sie erreichen das Massengrab, verstummen, stellen sich langsam um das Grab herum auf. Die Herrenhüte werden einer nach dem anderen abgenommen. Taschentücher werden hervorgeholt. Ein, zwei Minuten stummer Bewegungslosigkeit. Dann kommt wieder Leben in das erstarrte Gruppenbild. Die Köpfe wenden sich den amerikanischen Offizieren zu, die Arme werden erhoben und beteuernd ausgebreitet, fallen wieder an den Körper zurück, werden von neuem erhoben. Die Köpfe werden verneinend geschüttelt. Überflüssig zu erfahren: Auf Befehl der amerikanischen Kommandanten sind prominente Weimarer Bürger ins Lager geführt worden, damit sie sähen, was dort in ihrem Namen begangen wurde. Ich verstehe das stumme Schauspiel auch so: Sie wussten gar nichts. Niemand wusste irgend etwas.

(…) Doch was soll ich mit diesem Bild anfangen? Wenn man so will, ist es geeignet, als moralisches Urteil gefasst zu werden. Das jedoch ist nicht die Wahrheit dieser Szene. Die Empörung ist eine Reflexion, ein gekünsteltes Gefühl also, nur dazu gut, den viel schärferen Geschmack jenes ursprünglichen Augenblicks zu löschen. Die Kunst jedoch, das begriff ich rasch, ist nicht dazu da, Menschen zu verurteilen, sondern den Augenblick neu zu erschaffen. Und in dieser Hinsicht sind die Bilder des Schmerzes gerade soviel wert wie die des wolkenlosen Glücks.“

Hochkultur und KZ Kultur

Weimar, das heisst Goethe und Schiller, deutsche klassische Hochkultur. Dagegen bezeichnet Buchenwald die bestialische Herrschaft des totalitären Nazi-Regimes. Gerade einmal zehn Kilometer liegen zwischen dem Zentrum von Weimar, der Stadt der Dichter und Denker, und dem Konzentrationslager Buchenwald, das 1937 auf dem Ettersberg errichtet wurde. Das KZ Buchenwald gehört zu den größten Lagern im Dritten Reich. Fast 280.000 Menschen aus über 50 Nationen wurden in Buchenwald über die 8 Jahre seines Bestehens gefangen gehalten. Etwa 21.000 Häftlinge wurden am 11. April 1945 von den US-Truppen befreit. Die Zahl der Todesopfer wird allein in diesem Lager auf 56.000 geschätzt.

Ob die Weimarer die tatsächlichen Zustände in Buchenwald kannten? „Wir haben es euch immer gesagt, aber ihr wolltet es nicht hören“, hielten die Überlebenden, wie Imre Kertész, den Bürgern vor.

Tatsächlich. Wohin in Weimar gingen die SS Bewacher und ihre Familien zum Einkaufen oder um mal einen Kaffee oder Bier zu trinken? Mit wem sprachen sie? Auch aus Weimar wurden politisch missliebe Bürger und Juden in Buchenwald interniert. Einige auch wieder entlassen. Ganz bewußt, zur Einschüchterung derjenigen, die nicht mit Hitlers Staat sympathisierten. Ein Klima der Angst und des Flüsterns bestimmte das öffentliche Leben im totalitären Nazi Deutschland – zumindest für die, die keine Anhänger des Hitlerstaats waren.

In der Endphase des Nazi-Regimes wurden nach Bombenangriffen KZ Häftlinge bei Aufräumarbeiten mitten in der Stadt eingesetzt. Und in den Wochen vor der Befreiung des Lagers waren tausende Häftlinge auf Todesmärsche getrieben worden, um das Lager noch in letzter Minute zu räumen. Das kann der Bevölkerung nicht verborgen geblieben sein. „Der Wind (blies) ihnen den Stank verbrannten Menschenfleisches von dorther in die Nasen“ läßt Thomas Mann seinen Chronisten Serenus Zeitblom voller Bitterkeit in „Doktor Faustus“ konstatieren.

Es ist nicht im Mindesten plausibel, dass die Bürger der thüringischen Kleinstadt Weimar nichts von der Existenz des Lagers und den Zuständen dort gewußt haben. Amerikanische Offiziere des „Psychological Warfare Branch“ führten dazu im Frühsommer 1945 eine Reihe von Interviews mit Deutschen durch. Die allermeisten Deutschen wußten nach dieser Erhebung schon von Beginn der Naziherrschaft an vom „KL“-Lagersystem. „Lieber Herr Gott, mach mich stumm – das ich nicht nach Dachau kumm“ war in Bayern seit 1933 ein geflügeltes Wort.“ Die KZs waren „die Krönung der nationalsozialistischen Gegenkultur“. Die US-Offiziere stellen bei ihren deutschen Gesprächspartnern eine „absence of any feeling of guilt“ fest.

Imre Kertész, Häftling in Buchenwald, 1991: „General Patton, vielleicht auch Oberbefehlshaber Eisenhower selbst, hatte angeordnet, prominente Bürger aus Weimar in Gruppen in das nahe ihrer Stadt errichtete Lager zu führen, damit sie sahen, was dort in ihrem Namen verübt worden war. Hinter dem Drahtzaun des Krankenhausbezirks stehend sah ich, wie die Damen und Herren mit Entsetzen vor einem frischen Massengrab zurückschreckten, in dem wie Holzscheite zu Haufen übereinandergeworfene und mit Löschkalk übergossene Leichen lagen. Mit Händen und Füßen bedeuteten sie den um sie herumstehenden amerikanischen Offizieren, sie hätten nichts gewußt. Die Frage hat sich seitdem fast zu einer universellen ausgeweitet. Meiner Ansicht nach haben sie nicht gelogen. Während des achtjährigen Bestehens des Lagers mußten sie Tag für Tag die zur Arbeit hinausgetriebenen Gefangenen und das physische und psychische Elend dieser Gefangenen gesehen haben; sie hatten hören können, wie die Bewacher mit ihnen redeten – also haben sie doch alles gewußt; auf der anderen Seite nahmen sie dieses Wissen einfach nicht zur Kenntnis – also haben sie doch nichts gewußt. Wie so etwas möglich ist, wäre Gegenstand eines Extrabriefes. Diejenigen, die in einem totalitären System gelebt haben, werden jedoch mit
Sicherheit verstehen, wovon ich spreche.“

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Davidson Taylor, 12. Mai 1945: „Die Deutschen scheinen ganz einfach kein politisches Gewissen zu haben. Ich bin der Meinung, daß es wichtiger ist, sie davon zu überzeugen, daß das Individuum mitverantwortlich ist für die Barbarei oder die Menschlichkeit seiner Gemeinschaft, als ihnen zu beweisen, daß ein Teil der Gemeinschaft unglaublich brutal und unmenschlich war“

Die Reaktionen auf den Horror

Die Filmaufnahmen zeigen ein Stück weit das Ausmaß des Horrors in Buchenwald. Am Krematorium sind aufgeschichtete Leichen zu sehen. Die verstörten Reaktionen vor allem der Weimarer Frauen sind aufschlußreich. Das Entsetzen steht den Betrachtern ins Gesicht geschrieben. Auf dem Appellplatz haben die amerikanischen Soldaten einen Tisch aufgestellt. Darauf sind Objekte aus dem medizinischen Versuchsbereich des Lagers zu sehen. Vor allem Glasgefäße mit konservierten menschlichen Organen darin. Das Töten von Gefangenen bei Menschenversuchen hatte zum Lageralltag gehört. Apathisch und ungläubig bleiben die Gesichter vieler Besucher, denen ein amerikanischer Offizier den Hintergrund der Entstehung der Schaustücke erklärt. Die Dosis Verbrechen ist vermutlich zu groß. Die seelische Abstumpfung durch die mörderische Kriegszeit ist greifbar. „Sie haben alles gewußt, nahmen aber ihr Wissen einfach nicht zur Kenntnis“ schreibt Imre Kertész.

Davidson Taylor, Chef der Film und Kultur im amerikanischen Office of War Information möchte erreichen, dass die Deutschen lernen, dass der einzelne Staatsbürger für die Barbarei der Gemeinschaft mitverantwortlich ist. Diesem Ziel sollen Filmvorführungen dienen, die den Horror der KZs dokumentieren.

Erich Kästner zum Film „Todesmühlen“, Februar 1946:

„Ich bringe es nicht fertig, über diesen unaus- denkbaren, infernalischen Wahnsinn einen zusammenhängenden Artikel zu schreiben. Die Gedanken fliehen, so oft sie sich der Erinnerung an die Filmbilder nähern. Was in den Lagern geschah, ist so fürchterlich, daß man darüber nicht schweigen darf und nicht sprechen kann.” (…)

Der Film Todesmühlen

Auch im besetzten Deutschland werden ab Mitte Mai 1945 Wochenschaufilme der Allierten über die Lager in deutscher Synchronisation gezeigt. Im Sommer 1945 wird von amerikanischen Militärdienststellen auch ein Zusammenschnitt der grauenvollen Szenen produziert, der als „Death Mills“ – Todesmühlen in den Kinos gezeigt werden soll. Die Intention des Films wird in den Akten der OMGUS vom Mai 1945 so beschrieben:

a) Durch die Vorführung spezifischer, von den Nazis in seinem Namen begangener Verbrechen soll das deutsche Volk gegen die Nationalsozialistische Partei aufgebracht und veranlaßt werden, deren Versuchen zur Organisierung terroristischer oder Guerilla-Aktivitäten gegen die alliierte Besatzung entgegenzutreten.

b) Indem man das deutsche Volk an seine damalige stillschweigende Zustimmung zu der Ausführung solcher Verbrechen erinnert und ihm bewußt macht, daß es der Verantwortung dafür nicht entgehen kann, sollen die Deutschen dazu gebracht werden, die alliierten Besatzungsmaßnahmen zu akzeptieren.“

Der Film wird nach längerem Kompetenzgerangel im Hochsommer 1945 nach einem Drehbuch und unter Regie von Hanuš (Hans) Burger und Billy Wilder hergestellt. Den 20 Minuten langen Film habe ich für meine Filmproduktionsfirma zb Media aus den National Archives in College Park kopieren lassen.

Der Film beginnt mit einer von Wilder und Burger Ende Juni 1945 inszenierten Szene, in der eine Kolonne deutscher Männer mit geschulterten Kreuzen und Schaufeln zur Feldscheune Isenschnibbe bei Gardelegen in Sachsen-Anhalt marschiert. In der Scheune waren, nur wenige Tage vor dem Eintreffen amerikanischer Soldaten, etwa 1000 KZ Häftlinge verbrannt worden, die im Frühjahr 1945 auf einem der „Todesmärsche“ vor den anrückenden alliierten Truppen durch das Land getrieben wurden. Da Volkssturmmänner an diesem Verbrechen beteiligt waren, ist davon auszugehen, dass auch eine Reihe von Tätern in dieser Kolonne marschieren.

Die weiteren Szenen aus dem Filmmaterial der amerikanischen, englischen und russischen Kriegsberichterstatter ersparen dem Zuschauer nichts. Die ganze abstoßende Realität des KZ-Terrorregimes der Nazis wird vorgeführt.

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Erich Kästner zur Vorführung von „Todesmühlen“, Februar 1946:

„Die Kinos sind voller Menschen. Was sagen sie, wenn sie wieder herauskommen? Die meisten schweigen. Sie gehen stumm nach Hause. (…) Wieder andere murmeln: ,Propaganda! Amerikanische Propaganda! Vorher Propaganda, jetzt Propaganda!’ (…) Warum klingt ihre Stimme so vorwurfsvoll, wenn sie ,Propaganda’ sagen? Wollen sie die Köpfe lieber wegdrehen, wie einige der Männer in Nürnberg, als man ihnen diesen Film vorführte?“ (…)

Die Reaktion der Zuschauer

Erich Kästner berichtet in dem nebenstehenden Zitat von der Abwehrhaltung unter den deutschen Kinozuschauern. Seine Beobachtung der einfachen Kinozuschauer verbindet er mit der Beobachtung, dass auch die in Nürnberg angeklagten Nazi-Führer bei der Vorführung des Films im Gerichtssaal weggeschaut haben.

Ein amerikanischer Beobachter einer Vorführung berichtet eine starke Wirkung: „Alle niedergeschlagen, einige Frauen weinten, Bedauern über geschilderte Zustände ausgedrückt, jedoch wenig Gefühl für Verantwortlichkeit, viele Kommentare über Grausamkeiten gegen Kinder, Zuschauer außergewöhnlich gespannt und ernst, gelegentliches Murmeln und Geflüster ,unmöglich‘, ,solche Bestien‘, ‚Schweine‘. Keine Fragen nach Authentizität.“

Vielleicht steckt hinter dieser Behauptung einer starken Wirkung des Films der Wunsch, den Vorgesetzten etwas Positives zu vermelden. Weitere Berichte aus Berlin und anderen Städten deuten an, dass der Film wenige Zuschauer fand und dass er Wirkung vor allem auf frühere Gegner des NS Regimes hatte, weniger auf dessen frühere Anhänger. Angesichts der grauenvollen Szenen haben die meisten irgendwann – wie in Wirklichkeit – weggeschaut. Erich Kästner hat das authentisch beschrieben.

Carl Gustav Jung, Münchner Zeitung, 30. Juni 1945: „Die Frage der Kollektivschuld, die die Politiker so sehr beschäftigt und beschäftigen wird, ist für den Psychologen eine Tatsache, und es wird eine der wichtigsten Aufgaben der Theorie sein, die Deutschen zur Anerkennung dieser Schuld zu bringen.“

Thomas Mann, Doktor Faustus (1947): „Ich sage: unsere Schmach. Denn ist es bloße Hypochondrie, sich zu sagen, daß alles Deutschtum, auch der deutsche Geist, der deutsche Gedanke, das deutsche Wort von dieser entehrenden Bloßstellung mitbetroffen und in tiefe Fragwürdigkeit gestürzt worden ist? Ist es krankhafte Zerknirschung, die Frage sich vorzulegen, wie überhaupt noch in Zukunft -Deutschland- in irgendeiner seiner Erscheinungen es sich soll herausnehmen dürfen, in menschlichen Angelegenheiten den Mund aufzutun?“

Carl Gustav Jung, Münchner Zeitung, 30. Juni 1945: „Man wird der psychologischen Kollektivschuld wohl vorwerfen, sie sei ein Vorurteil und eine ungerechte Verurteilung in Bausch und Bogen. Gewiß ist sie das, und zwar macht das eben gerade das irrationale Wesen der Kollektivschuld aus: Sie fragt nicht nach Gerechten und Ungerechten, sie ist die verfinsternde Wolke, die sich von der Stätte ungesühnten Verbrechens erhebt.”






Karl Jaspers, Die Schuldfrage, 1946:

„[Politische Schuld] besteht in den Handlungen der Staatsmänner und in der Staatsbürgerschaft eines Staates, infolge derer ich die Folgen der Handlungen dieses Staates tragen muß, dessen Gewalt ich unterstellt bin und durch dessen Ordnung ich mein Dasein habe (politische Haftung). Es ist jedes Menschen Mitverantwortung, wie er regiert wird. […]

Wir waren deutsche Staatsbürger, als die Verbrechen begangen wurden von dem Regime, das sich deutsch nannte und Deutschland zu sein für sich in Anspruch nahm und dazu das Recht zu haben schien, weil es die Staatsmacht in Händen hatte und bis 1943 keine für es gefährliche Gegenwirkung fand.

Die Zerstörung jeder anständigen, wahrhaftigen deutschen Staatlichkeit muß ihren Grund auch in Verhaltensweisen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung haben. Ein Volk haftet für seine Staatlichkeit.“







Walter Ulbricht, 1948: „Im Gegensatz zu gewissen „Politikern“ in Westdeutschland sind wir der Meinung, dass nicht die Werktätigen und der Mittelstand Träger des Faschismus waren, sondern die Konzern-, Bankherren und Großgrundbesitzer, die den Faschismus zur Macht brachten, um das eigene Volk und andere Völker besser ausbeuten und unterdrücken zu können. Deshalb wurden in der SBZ im Einvernehmen mit den antifaschistisch-demokratischen Parteien, Gewerkschaften und anderen Massenorganisationen die faschistischen Verbrecher bestraft und enteignet. Die einfachen Nazimitglieder jedoch wurden nicht vor die Entnazifizierungskommission gestellt.“













Thomas Mann, Doktor Faustus: „Fluch, Fluch den Verderbern, die eine ursprünglich biedere, rechtlich gesinnte, nur allzu gelehrige, nur allzu gern aus der Theorie lebende Menschenart in die Schule des Bösen nahmen! (…) Eine Vaterlandsliebe aber, die kühnlich behaupten wollte, daß der Blutstaat, dessen schnaubende Agonie wir nun erleben; der unermeßliche Verbrechen, lutherisch zu reden, »auf seinen Hals nahm« bei dessen brüllender Ausrufung, bei dessen das Menschenrecht durchstreichenden Verkündigungen ein Taumel von Überglück die Menge hinriß, und unter dessen grellen Bannern unsere Jugend mit blitzenden Augen, in hellem Stolz und im Glauben fest, marschierte, – daß er etwas unserer Volksnatur durchaus Fremdes, Aufgezwungenes und in ihr Wurzelloses gewesen wäre, – eine solche Vaterlandsliebe schiene mir hochherziger, als sie mich gewissenhaft dünkte.










Eugen Kogon, Frankfurter Hefte, 1946: „Die Kräfte der Besinnung im Deutschtum zu wecken, war Aufgabe einer weitblickenden Realpolitik der Alliierten. Sie faßte sie in dem Programm der ,re-education’ zusammen. Und sie wurde eingeleitet durch die These von der deutschen Kollektivschuld. Der Anklage-,Schock’, daß sie alle mitschuldig seien, sollte die Deutschen zur Erkenntnis der wahren Ursachen ihrer Niederlage bringen. Man kann heute, fast ein Jahr nach Verkündigung der These, nur sagen, daß sie ihren Zweck verfehlt hat. (…) Die ,Schock’-Pädagogik hat nicht die Kräfte des deutschen Gewissens geweckt, sondern die Kräfte der Abwehr gegen die Beschuldigung, für die nationalsozialistischen Schandtaten in Bausch und Bogen mitverantwortlich zu sein. Das Ergebnis ist ein Fiasko.“

Imre Kertész, Das glücklose Jahrhundert, 1995: „Das Staunen des Menschen über die Schöpfung, seine andächtige Verwunderung darüber, daß vergängliche Materie – der menschliche Körper – lebt und eine Seele besitzt, seine Verwunderung über das Bestehen der Welt sind vergangen und damit eigentlich die Ehrfurcht vor dem Leben, die Andacht, die Freude, die Liebe. Der Mord, der an die Stelle des früher Vorhandenen getreten ist, (…) als akzeptiertes und üblich gewordenes „natürliches“ Verhalten (…), der Mord als Weltanschauung, der Mord als Verhaltensform also ist zweifellos eine grundlegende Veränderung …“

„Die kontinuierliche, über Jahre und Jahrzehnte systematisch betriebene und so zum System gewordene Menschenausrottung, während nebenher das sogenannte normale, alltägliche Leben weiterläuft (…): dies, zusammen mit der Gewöhnung, der Gewöhnung an die Angst, (dem) Sichabfinden (dem) innerliche(n) Abwinken, ja (dem) Gelangweiltsein – das ist schon eine neue, ja die allerneueste Erfindung“.

Die Diskussion um kollektive Schuld

Nicht nur Filme wurden 1945 gezeigt, auch mit großen Plakataktionen versuchte die amerikanische Besatzungsmacht, die Deutschen zu erreichen. Wie auf diesem Foto an der Münchner Feldherrnhalle. Der Plakattext bei „Wessen Schuld“ versuchte die Deutschen als Kollektiv zu mahnen. Carl Gustav Jung erklärt im Sommer 1945 die Anerkennung der Kollektivschuld als wichtigste Aufgabe für einen Neubeginn. Dass C.G. Jungs eigene Haltung gegenüber den Nazis bis zumindest 1940 nicht gerade die eines konsequenten Warners und Kritikers war, sondern dass seine tiefenpsychologischen Analysen des „teutonischen Furors“ der Nazis durchaus von einer Art klammheimlicher Bewunderung zeugen, muss allerdings erwähnt werden.

München Mai 1945 - Wessen Schuld


Spezialisten des amerikanischen Psychological Warfare Branch versuchen bereits im Frühsommer 1945 die Wirkung der Kampagnen in Film, Foto und Rundfunk zu ermitteln. Sie befragen Anfang Juni 1945 70 Deutsche Bürger in verschiedenen Städten. Die Ergebnisse beschreibt Morris Janowitz im Sommer 1946:

„Many |of the interrogated | Germans, (…) claimed that they considered concentration camps as penal institutions in which German Jews, Communists, active political oppositionists, and criminals were sent. They thought that acts of brutality might possibly be committed in these camps but that these were the isolated actions of overzealous guards. Only a small minority profess to have had some knowledge of the details, but never of their actual extent.“

Die Befragung zur Wirkung der Film- und Plakatkampagne vom Mai 1945 sind für die US-Offiziere ernüchternd. Die meisten Befragten weisen jede Mitverantwortung für die Verbrechen von sich.

„Regardless of the amount and kind of knowledge of atrocities, there was an almost universal tendency to lay responsibility upon the Nazi party or the S.S. For example, of the seventy German civilians mentioned above, only three ascribed some element of guilt to the German people as a whole.“

Auch Karl Jaspers beschreibt die Wirkung der Plakate. „Als im Sommer 1945 die Plakate in den Städten und Dörfern hingen mit den Bildern und Berichten aus Belsen und dem entscheidenden Satz: Das ist eure Schuld!, da bemächtigte sich eine Unruhe der Gewissen, da erfaßte ein Entsetzen viele, die das in der Tat nicht gewußt hatten, und da bäumte sich etwas auf: Wer klagt mich da an? Keine Unterschrift, keine Behörde, das Plakat kam wie aus dem leeren Raum. Es ist allgemein menschlich, daß der Beschuldigte, ob er nun mit Recht oder Unrecht beschuldigt wird, sich zu verteidigen sucht. (…) ,Das ist eure Schuld!’ besagt (…) heute viel mehr als Kriegsschuld. Jenes Plakat ist schon vergessen. Was dort von uns erfahren wurde, ist jedoch geblieben: erstens die Realität der Weltmeinung, die uns als gesamtes Volk verurteilt − und zweitens die eigene Betroffenheit.“

Jaspers entwickelt in seiner Schrift „Die Schuldfrage“ 4 Ebenen von Schuld. Eine kriminelle der eigentlichen Täter, eine politische, durch die Handlungen der Staatsführung und von Mitbürgern (wie den Parteigenossen), die den einzelnen Staatsbürger in eine politische Mithaftung führt, eine moralische, sich nicht an verbrecherischen Handlungen, egal ob befohlen oder nicht, zu beteiligen und eine metaphysische Schuld, die besagt, dass ich mich mitschuldig mache, wenn ich nicht tue was ich kann, um das Verbrechen zu verhindern. Er fordert uns Demut ab, die Brechung des Stolzes.

Ost-West Konkurrenz

Stalinplakat in Berlin 1945

Ein Dilemma für die amerikanische und britische Umerziehungspolitik war die Position ihrer sowjetischen Bundesgenossen. Die amerikanischen Interviews mit Deutschen im Juni 1945 sprechen davon, dass die über Radio Berlin ausgestrahlte sowjetische Lesart der im Kern, abgesehen von den „Hitlers“, guten deutschen Volksgenossen auch in den Westzonen auf offene Ohren stößt.

„Early in the re-education of the German people the military government attempted to develop a sense of collective responsibility for results of National Socialism, especially for atrocities in concentration camps. Detailed interviews indicate that, before the Allied occupation, Germans were aware of the existence and function of concentration camps, although they did not know the details or extent. Almost universally, the individual German projects responsibility upon the Nazi party or the S.S. There is little evidence that exposure
to the facts was developing a sense of need for greater personal participation in political life among the traditionally unpolitical.“

Die Not macht die Deutschen erfinderisch und mit gutem Gespür für die Risse in den Postitionen der vermeintlich noch Alliierten verweisen sie die Amerikaner auf die Schwächen ihrer Kollektivschuldthese. Nicht vergessen sollte man in diesem Zusammenhang, dass die Nazi Führung unter Hitler und dann unter Himmler noch in den letzten Kriegstagen verzweifelt versuchte, einen Separatfrieden mit den Westalliierten zu erreichen. Auch so mancher eingefleischter Nazianhänger mag im Sommer 1945 weiterhin die Hoffnung gehegt haben, ungeschoren davonzukommen, wenn die Anti-Hitler Koalition zerbrechen sollte.

Eine neue Schulddefinition

In der Konkurrenz der Propagandastrategien machen die US-Erzieher vom Department of Psychological Warfare schon im Juli 1945 eine Kehrtwende. Nun sollten nur die Täter, die persönlich Schuldigen Deutschen zur Rechenschaft gezogen werden, wie Janowitz, als an den Aktionen der Militärbehörden beteiligter Offizier beschreibt:

„Later, editorial comment drew a distinction between those legally guilty of having directly committed atrocities and those morally responsible for having allowed National Socialism to come into being and for having tolerated its crimes.“

Die Nürnberger Tribunale gegen die Hauptkriegsverbrecher, gegen KZ-Ärzte oder Wachpersonal fokussieren sich auf die individuellen Täter. Das große Kollektiv der einfachen deutschen Mitreisenden auf dem Nazi-Zug konnte sich nun mit den Besatzungsmächten arrangieren, wie in der Studie von Jannowitz befragte deutsche Oppositionelle bemerken:

„In at least one case, anti-Nazis spontaneously declared that the policy of the military government to distinguish sharply between party members and nonparty members was running counter to attempts to develop a sense of collective responsibility among the German people. Military government policy was leading many Germans who had traveled complacently on the Nazi bandwagon to consider that they would not have to bear any responsibility, since only Nazi party members were being punished.“

Das Fiasko der Kollektivschuldthese

Auch Eugen Kogon, selbst Häftling in Buchenwald, stellt die Wirkung der Kampagnen in Frage. Er wendet sich vor allem gegen den Versuch, bei den Deutschen ein kollektives Schuldgefühl für das KZ Geschehen zu erzeugen. Dieser Versuch sei in einem Fiasko geendet.

Seit 1946 wurden konkrete Schritte der Entnazifizierung in den Westzonen in den Spruchkammerverfahren durchgeführt. Hier wurden auch die einfachen Mitläufer zumindest mit der Vergangenheit konfrontiert. Wenn sie denn konsequent durchgeführt worden wären, barg dieses verfahren die Chance einer grundlegenden Eliminierung des nazistischen Denkens aus den öffentlichen Institutionen und Einrichtungen. Doch wie tief ging die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage bei den durch die Kriegsfolgen abgestumpften Deutschen wirklich?

Die Horror-Bilder haben Wirkung entfaltet – zumindest auf diejenigen, die nicht direkt in die Taten des Naziregimes verstrickt waren. Die moralische Kehrtwende auch früherer Anhänger der Nazi-Bewegung, kann mit den schockierenden Zeugnissen aus den Lagern begründet werden. Und es gab immer eine große Zahl Deutscher, die die NSDAP nie gewählt hatte oder ihre Ideologie geteilt hatte. Für Sie können die Bilder tatsächlich schockierend gewirkt haben, wie Karl Jaspers es beschreibt. Sie waren auch ein probates Mittel, allzu nassforsche Alt-Nazis politisch angreifen zu können. Im Zugen des sich entwickelnden Kalten Kriegs wurden schließlich auch die belasteten Deutschen wieder gebraucht. Auf beiden Seiten. Eine Kultur des „Beschweigens“, wie Gesine Schwan sie nennt, war entstanden. Anfang der 1950er Jahre fanden 42% der Westdeutschen die Nazizeit „am besten“ und nur 2% die bundesrepublikanische Gegenwart. 1948 fanden 70% der Deutschen, dass sie keine Gesamtverantwortung am 2. Weltkrieg gehabt hätten.

Klaus Staeck, Plakat Ostverträge 1972

Imre Kertész, 1992: „Überhaupt stellt die Tortur das Wesen jeder Verabsolutierung dar, die zu Staatsrang erhoben wird, jeder Diktatur, die die Macht zu Gewaltherrschaft aufbläht“.

Das Plakat von 1972

Als historisches Zeugnis für die Nachgeborenen finden die Filme und Bilder von 1945 für mich ihre eigentliche Bedeutung.

Ich erinnere mich gut an das Jahr 1972. Die politische Situation war aufgeheizt wegen der Verständigungspolitik von Willy Brandt und seiner sozial-liberalen Koalition. Die CDU/CSU versuchte, Brandt mit einem konstruktiven Mißtrauensvotum zu stürzen. Zahlreiche ausserparlamentarische Initiativen liefen gegen dieses Vorhaben Sturm. Es wurden Plakate des Aktionskünstlers Klaus Staeck geklebt, das mich, damals Schüler, tief berührt hat. Um die politische Agitation damals, die Ineinssetzung von CDU Politik und Nazi-Gewaltverbrechen ging es mir dabei nicht, sie ist dem Thema nicht angemessen. Aber dieses Foto war tatsächlich das Erste derartige Zeugnis der KZ Gräuel, dass ich wahrgenommen habe. In meiner Schule wurden das KZ-Lagersystem der NS-Zeit im Geschichtsunterricht nicht behandelt, geschweige denn in Fotographien den Schülern zugemutet.

Das Bild des Bulldozers, der einen Leichenhaufen vor sich herschiebt, stammt aus dem Konzentrationslager Bergen Belsen und wurde ebenfalls Mitte April 1945 von einem britischen Kriegsberichterstatter aufgenommen. Alain Resnais hat dieses Bild in seinem Film Nuit et Brouillard verwendet. Aus hygienischer Vorsicht wird hier von der britischen Armee eine schnelle Entsorgung von Menschen in ein Massengrab vorgenommen – eigentlich eine wiederum grauenvolle Szene. Ich habe dieses Bild anders gelesen, tatsächlich als Symbol der Gräueltaten von uns Deutschen. Es hat mich zutiefst verstört.

Die Fragen an die Vorfahren

Zum Glück haben meine Eltern die Fragen dazu offen beantworten können, da sie zu keinem Zeitpunkt das NS Regime unterstützt hatten. Aber was ist mit der Schuld der Deutschen? „Die Deutschen“ waren für mich als unschuldiges Nachkriegskind natürlich irgendwelche Andere. Und es gab Böse und Gute. Das ist, glaube ich, simpel, aber wichtig, weil ich als junger Mensch in den „Guten“ positive Bezugspunkte in der mir unbekannten Vergangenheit finden konnte.

Dies fing damit an, sich zu vergegenwärtigen, wieviele Deutsche in den Konzentrationslagern einsaßen und umgekommen sind. So wie es Erich Kästner 1946 formuliert hat. Es ging um die Ausschaltung jedes politischen Widerstandes gegen das NS-Regime. Dafür standen die KZs in der ersten Phase des Naziregimes. Folgerichtig suchte ich, wie eine ganze Generation junger Deutscher, seit den 60er Jahren das „andere“ Deutschland kennenzulernen. Meine Mutter schenkte mir zum Beispiel Bücher von Lion Feuchtwanger. Die gab es damals 1970 in der Bundesrepublik noch nicht so leicht zu kaufen, ich habe noch heute die Ausgaben des Aufbau Verlags, Ostberlin.

Mit der Fernsehserie „Holocaust“ wurde 1978 auch die Thematik der Vernichtungslager wieder breit „bekannt“. Erst jetzt wurde das Thema wieder in seiner ganzen einzigartigen Tragweite gesehen und öffentlich diskutiert.

Richard von Weizsäcker, Bundespräsident, 1985: „Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich. Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es gibt Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben. Jeder, der die Zeit mit vollem Bewußtsein erlebt hat, frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung.

„Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah – (…) aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“

Die Rede von Richard von Weizsäcker

Am 8. Mai 1985 hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker die „Staatsdoktrin“ der Bundesrepublik zur Schuldfrage eindeutig formuliert. Es gibt nur die persönliche Schuld der Täter. Doch so ist seine Aussage verkürzt. Weizsäcker findet vielleicht ein wirklich klare Bestimmung des Zusammenhangs zwischen dem Verhalten des Einzelnen und den Taten in der Gesellschaft um ihn herum:

Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah. Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts gewußt oder auch nur geahnt zu haben.“

Weizsäcker mahnt jeden, nach seiner eigenen Verstrickung und nach der seiner Vorfahren zu forschen. Insofern überwindet er semantisch die Grenze zwischen Kollektiv und Individuum, denn das Kollektiv ist die Summe der Individuen. Ganz ähnlich hatten das die amerikanischen Offiziere 1945 intendiert. Ein Wegschauen darf es nicht geben. Auch nicht bei den Nachgeborenen, die in bestimmter Form die Schuld annehmen müssen. Wir Jungen sind „verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“

Die Verantwortung des Einzelnen

Die Katastrophe des NS Regimes macht dem Einzelnen klar, dass er für die Zustände in seiner Gesellschaft selbst mitverantwortlich ist. Und dass er entsprechend lebt. Das heißt, Verantwortung in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft übernimmt. Der Sinn der amerikanischen Re-education lag in der Zerstörung des Untertanengeistes auf der einen und des Obrigkeitsstaates auf der anderen Seite. Das neue Deutschland sollte darin bestehen, dass staatliches Handeln immer nur den Rahmen vorgibt, dass es aber auf die Aktivität der Bürger setzt, den Rahmen mit einer lebendigen und demokratischen Kultur zu füllen. „Es ist jedes Menschen Mitverantwortung, wie er regiert wird“, schreibt Karl Jaspers 1946. Eine offene Gesellschaft ist die Voraussetzung dafür.

Die Mahnung Thomas Manns, auch besondere charakterliche Eigenschaften von uns Deutschen, die in die Katastrophe der Nazi-Zeit geführt haben, in der Beschäftigung mit unserer Geschichte zu erkennen, ist weiter aktuell. „Nicht die Geschichte ist unbegreiflich, sondern wir begreifen uns selbst nicht“, schreibt Kertész.

Ein wichtiger Punkt dabei ist die Auseinandersetzung mit dem Rassismus der Nazi-Ideologie genauso wie mit dem Historizismus der kommunistischen Ideologie.

Thomas Mann, Doktor Faustus: „War diese Herrschaft nicht nach Worten und Taten nur die verzerrte, verpöbelte, verscheußlichte Wahrwerdung einer Gesinnung und Weltbeurteilung, der man charakterliche Echtheit zuerkennen muß, und die der christlich-humane Mensch nicht ohne Scheu in den Zügen unserer Großen, der an Figur gewaltigsten Verkörperungen des Deutschtums ausgeprägt findet? Ich frage – und frage ich zuviel? Ach, es ist wohl mehr als eine Frage, daß dieses geschlagene Volk jetzt eben darum irren Blicks vor dem Nichts steht, weil sein letzter und äußerster Versuch, die selbsteigene politische Form zu finden, in so gräßlichem Mißlingen untergeht.“